Rosenkranz lesen

Der Dichter Moses Rosenkranz (1904–2003) besuchte mich mit seiner Frau Doris gegen
Mitte der 80er Jahre im Illertal, weil er mit diesem Treffen die Hoffnung auf mehr
Publizität verband, die ich nicht erfüllen konnte. Seine gereimte Verskunst mit einer
Sprachmelodik ohnegleichen entstammte für mich aus einer anderen Welt und hatte
überhaupt nichts zu tun mit dem gegenwärtigen Alltagsdeutsch, das er verachtete.
Rosenkranz scheute sich auch nicht, die Werke der meisten heutigen Lyriker bestenfalls
als gebrochene Prosa zu bezeichnen, nicht zu Unrecht.
Auch diejenigen von Rose Ausländer – aus der Bukowina wie er selbst – über die ich
damals arbeitete und gegen die er schwere Vorwürfe erhob. Sie bedeuteten das abrupte
Ende meiner geplanten Dissertation.

Als ich Rosenkranz Mitte der 90er Jahre in seinem Refugium in Lenzkirch-Kappel im
Hochschwarzwald wiedersah, konnte er sich meiner erinnern, mich aber wegen seiner
nahezu vollständigen Erblindung nicht mehr richtig erkennen. „Komm näher, Reiter,“
sagte er.

Mehrere Jahre seines furchtbar schweren Lebens hatte Moses Rosenkranz im Getto von
Czernowitz gedarbt; danach war er eingesperrt in einem moldauischen Lager, wo er die
„Blutfuge“ schrieb, die seinen Mithäftling Paul Celan zur „Todesfuge“ inspirierte. Darauf
folgten zehn Jahre im stalinistischen GULAG Sibiriens wegen „Deutschenfreundlichkeit“.

Hier ist ein Vers aus dem Gedicht „Minne“, das seiner Frau Doris gewidmet ist, die ihn
bis zu seinem Tod pflegte:

 

Seitdem ich dir gehöre

werd ich von mir betreut

daß nichts an mir dich störe

und alles dich erfreut

 

 

Foto: Rimbaud Verlag

 

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